Neue Ideen für mehr Tierwohl – sind Politik, Wirtschaft und Verbraucher bereit für eine Revolution?
Lieber Leserin, lieber Leser,
fast jeder von uns hat mittlerweile mitbekommen, dass die Lebensqualität für den Großteil der Nutztiere wie Rinder, Schweine oder Geflügel in der vorherrschenden konventionellen Haltungsform eher mit Tierqual als mit Tierwohl zu beschreiben ist.
Die Verbraucherkritik daran nimmt immer mehr zu. Politik und Wirtschaft reagieren – auch mit immer mehr Siegeln und Kennzeichnungen, die den Verbrauchern eine einfache und schnelle Bewertung der Tierwohl-Qualität ermöglichen sollen.
Ich nehme hier das für 2020 geplante staatliche Tierwohl-Label und die noch recht junge Kennzeichnung „Haltungsform“ der Lebensmittelketten genauer unter die Lupe.
Und ich stelle einen mutigen Plan vor, der das Ziel eines flächendeckend hohen Tierwohls durch einen radikalen Umbau der Nutztierhaltung in Deutschland hat, und zeige, welche Kosten für jeden Verbraucher jährlich dafür anfallen würden.
Neues staatliches Tierwohlkennzeichen für Schweinefleisch
Das Bundeslandwirtschaftsministerium plant ab Mitte 2020 die Einführung eines staatlichen Tierwohlkennzeichens – allerdings in einem ersten Schritt zunächst nur für Schweinefleisch, später für Geflügel und noch später für Rinder.
Das Label hat drei Stufen – mit in jeder Stufe steigenden Anforderungen für 13 Hauptkriterien. Dies sind unter anderem: Platz im Stall, Rauhfutter und Beschäftigung, Nestbaumaterial, Ferkelkastration, Schwanzkupieren, Säugephase, Transport zum Schlachthof und Schlachtung. (1) Alle Details zu den Kriterien des neuen staatlichen Tierwohllabels für Schweinehaltung findest Du auf der Website tierwohl-staerken.de des Bundeslandwirtschaftsministeriums – auch zum Download (2).
Kritisiert wird, dass es ein freiwilliges Label sein wird anstatt einer verpflichtenden Kennzeichnung. Auch seien die Anforderungen an das Tierwohl nicht streng genug, vor allem in Stufe 1 (3).
Den Eindruck habe ich auch. Am Beispiel „Platz im Stall“ wird das deutlich: In Stufe 1 bedeuten 20 % mehr Platz, dass ein Mastschwein (50 – 110 kg schwer) statt der gesetzlichen 0,75 dann mindestens 0,90 Quadratmeter zum Leben haben muss. Also eine kleine Fläche in der Größe von 2,4 DIN A4 Blättern mehr. Das Schwein wird also immer noch extrem beengt leben müssen.
Wichtig zu wissen: Die hohen Tierwohl-Anforderungen der Bioverbände Naturland, Bioland und Demeter werden vom staatlichen Tierwohl-Kennzeichen nicht erreicht.
Einen konkreten Zeitpunkt, wann ein Tierwohlkennzeichen für Geflügel und Rinder kommen soll, konnte ich bei meiner Recherche nicht entdecken.
Kennzeichen „Haltungsform“
Die großen Lebensmittelhändler – Aldi, Lidl, Rewe, Edeka, Netto, Kaufland und Penny – hatten im April 2019 eine Kennzeichnung “Haltungsform” (4) vorgestellt. Sie soll Verbrauchern eine Orientierung geben, wie viel Tierwohl in einem Produkt steckt. Die Haltung von Schweinen, Rindern, Hühnern, Puten und Milchvieh wird nach vier unterschiedlichen Haltungsformen einsortiert.
Solche Kennzeichnungen werden nicht für Fleisch aus den Frischetheken der Supermärkte vergeben, sondern für verpacktes Fleisch aus den Selbstbedienungstheken.
Haltungsform 1 “Stallhaltung” (rot): Diese Stufe entspricht dem gesetzlichen Mindeststandard. Beispiel Mastschwein: Es muss demnach 0,75 Quadratmeter Platz zum Leben haben und wird nur im Stall gehalten.
Haltungsform 2 “StallhaltungPlus” (blau): Kleine Verbesserungen zum gesetzlichen Mindeststandard. Die Tiere haben geringfügig mehr Platz im Stall. Beispiel Mastschwein: mindestens 0,825 Quadratmeter und zusätzliches Beschäftigungsmaterial. Es wird nur im Stall gehalten.
Haltungsform 3 “Außenklima” (orange): Tiere haben noch mehr Platz im Stall. Beispiel Mastschwein: mindestens 1,05 Quadratmeter und Kontakt mit dem Außenklima, wie in einem überdachten Außenbereich am Stall oder durch eine nach außen offene Stallseite.
Haltungsform 4 “Premium” (grün): In dieser Stufe haben die Tiere den meisten Platz im Stall und einen tatsächlichen Auslauf im Freien. Ein Mastschwein hat demnach mindestens 1,5 Quadratmeter Platz. In Stufe 4 finden sich sowohl konventionell erzeugtes Fleisch als auch Fleisch mit Bio-Siegeln. Das finde ich verwirrend: Konventionell erzeugtes Fleisch wird in einen Topf mit Bio-Siegeln geworfen.
Kritik gibt es reichlich: Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner kritisierte die „Haltungsform” Kriterien als unzureichend, weil sie sich im Wesentlichen nur auf die Bedingungen der Stallhaltung bezögen.
Ein Check der Verbraucherzentrale im Sommer 2019 zeigte zudem, dass Fleisch aus den Stufen 3 und 4 insgesamt nur weniger als 10 Prozent des Angebotes der Lebensmittelketten ausmachte.
Ich finde es aus Sicht eines Verbrauchers immer noch schwierig, nur durch den Blick auf das Haltungsetikett auf der Fleischpackung beurteilen zu wollen, wieviel Tierwohl in einem Produkt steckt. Dafür würde ich dann doch weitere Hilfestellung benötigen – und mir die Übersichten mit den Mindestanforderungen für Hähnchenmast, Milchviehhaltung, Putenmast, Schweinemast und Rindermast ansehen (5). Dort werden die Unterschiede der Haltungsstufen für jedes Kriterium auf einen Blick deutlich.
Der mutige Plan: staatliche Preisaufschläge auf tierische Produkte sollen einen radikalen Umbau der Nutztierhaltung finanzieren
Das geplante staatliche Tierwohlkennzeichen für Schweine und die Kennzeichnung „Haltungsform“ sind aus meiner Sicht eher zaghafte Schritte und bewirken keine schnellen und großen Veränderungen für das Tierwohl.
Alle – Verbraucher, Politik, Wirtschaft – müssen meines Erachtens mehr Mut für radikalere Veränderungen zeigen. Ich freute mich daher, als ich von einem Plan erfuhr, der wirklich das Potenzial dafür hat.
Im Auftrag der Bundesregierung erarbeiten Experten im Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung einen Plan für einen radikalen Umbau der Nutztierhaltung in Deutschland über mehrere Jahre – mit dem Ziel eines deutlich höheren Tierwohlniveaus in allen Höfen.
Das Netzwerk wird von dem ehemaligen Bundeslandwirtschaftsminister Jochen Borchert geleitet. Die sogenannte Borchert-Kommission will der Regierung einen Preisaufschlag auf tierische Produkte empfehlen, den der Verbraucher dann an der Ladenkasse mitbezahlt:
- 40 Cent pro kg Fleischprodukte
- 15 Cent pro Kilo Käse, Butter oder Milchpulver.
- 2 Cent pro kg Milch, Milchprodukte und Eier
Damit kämen im Jahr rund 3 Milliarden Euro zusammen, die in einen Fonds fließen. Daraus werden den Bauern die höheren Kosten für den Umbau der Ställe sowie die aufwändigere Haltung der Tiere vergütet.(6) (7).
Zum Vergleich: Bislang bekommen deutsche Bio-Bauern nur 1,3 Milliarden Euro jährlich an Subventionen aus der EU-Agrar-Förderung. Der viel größere Teil der Subventionen aus Brüssel von jährlich 4,8 Milliarden Euro wird an deutsche Agrarbetriebe direkt ausbezahlt, leider weitgehend unabhängig davon, wie diese das Land bewirtschaften. (8)
Was müsste der Verbraucher für diese Tierwohl-Revolution bezahlen?
Im Stern-Artikel “Lasst die Sau raus” (7) werden die Kosten wie folgt berechnet: Jeder Deutsche isst im Durchschnitt 60 Kilo Fleisch pro Jahr. Der Zuschlag von 0,40 Euro/kg beträgt 24 Euro pro Person und Jahr. Für Käse kommen 4 Euro, für Milchprodukte 2 Euro pro Jahr hinzu.
Im Jahr würden also nur 30 Euro mehr für einen Single-Haushalt oder 120 Euro für einen 4-Personen-Haushalt anfallen. Dieser jährliche Mehrbetrag ist sehr gering und dürfte eine hohe Akzeptanz bei einem Großteil der Bevölkerung finden.
Allerdings können nach meiner Überzeugung mit diesem geringen Aufschlag keine so hohen Tierwohlstandards wie bei Naturland, Bioland oder Demeter flächendeckend in allen Höfen aufgebaut werden. Dann wohl eher wie beim EU-Bio Siegel, mit im Vergleich zu den vorgenannten Premium-Biosiegeln eher niedrigen Tierwohlstandards. Doch dies wäre ein großer Fortschritt für das Tierwohl. Denn die biologische Landwirtschaft mit hohen Tierwohlstandards ist immer noch eine kleine Nische.
Insgesamt werden in Deutschland rund 27 Millionen Schweine für die Fleischerzeugung gehalten, davon rund 12 Mio. Mastschweine, knapp 13,4 Mio. Jungschweine/Ferkel und rund 1,9 Mio. Zuchtschweine. Nur ca. 1 Prozent (120.000) aller Mastschweine sind Bio-Schweine aus ökologisch wirtschaftenden Betrieben. Dem gegenüber stehen also 99 % (1.080.000) Mastschweine aus der konventionellen Tierhaltung, die oft mit Tierqual einhergeht. (9), (10), (11).
In Sachen Tierwohl ist noch gewaltig viel zu tun!
Die Borchert-Kommission will ihre Empfehlungen im März 2020 veröffentlichen. Wir dürfen gespannt sein, ob dieser Plan Realität werden wird.
Tipps + Kicks:
Du kannst Dich bereits jetzt für Tierwohl auf hohem Niveau entscheiden, in dem Du Fleisch der deutschen Bio-Anbauverbände wie Naturland, Bioland oder Demeter kaufst. Diese haben die strengsten Richtlinien zur Tierhaltung.
Zudem könntest Du Dich persönlich überzeugen, wie die Tiere auf den Bauernhöfen dieser Anbauverbände leben. Einige Bauern bieten Hofführungen an. Ich selber konnte mir erst ein Bild machen, als ich bei einer ausgiebigen Hofführung durch die Ställe in einem Bio-Betrieb direkt mit den Schweinen in Kontakt kam und viel über ihre Bedürfnisse und die Bio-Haltung erfuhr.
Du brauchst schnell einen Überblick zu den Unterschieden zwischen konventioneller Tierhaltung und den einzelnen Tierwohl-Kennzeichen? Auf der Website von tierwohl-staerken.de findest Du unter der Rubrik Einkaufshilfen Vergleichstabellen und detaillierte Informationen zu den einzelnen Labels: Bio-Siegel, Demeter, Naturland, Bioland, Neuland, Tierschutzbund (“Für mehr Tierschutz”) und Vier Pfoten (“Tierschutz kontrolliert”) (12).
Vielleicht könntest Deinen Fleischkonsum reduzieren oder sogar gänzlich darauf verzichten. Doch dies ist ein Thema für einen weiteren Blog-Letter.
Herzliche Grüße
Elke Vohrmann
Quellen:
(1) https://www.bmel.de/DE/Tier/Tierwohl/_texte/Einfuehrung-Tierwohllabel.html Tierwohl-Initiative des Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung
https://www.tierwohl-staerken.de/ Website des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung
(4) https://www.haltungsform.de/
(5) https://www.haltungsform.de/mindestanforderungen/
(6) https://www.agrarheute.com/politik/borchert-kommission-erwaegt-offenbar-fleischsteuer-564665
(7) “Der Stern”, Ausgabe Nr. 10 vom 27.02.2020. S. 27 – 35: „Lasst die Sau raus!“
(8) https://www.zeit.de/2019/24/agrarsubventionen-eu-hilfen-landwirtschaft-klimaschutz-tierschutz
(9) https://www.agrarheute.com/markt/tiere/bio-schweine-kleiner-markt-hohen-preisen-549691
(10) https://www.dlg.org/de/landwirtschaft/themen/tierhaltung/schwein/schweinehaltung-in-deutschland/
(11) https://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung/schweine/mastschweine
(12) https://www.tierwohl-staerken.de/einkaufshilfen/tierwohl-label/
Foto: © Elke Vohrmann